Autor: Sabina Lorenz
Epilog für eine Katze III
Noch einmal Leben jagen mit Sprüngen, die nie ganz
domestiziert, jeder Muskel vollendete Autonomie und Lust
und Spiel, mein Daimon, du Jägerin, in den Ohrenspitzen noch
den Gesang der Vögel im Morgengrauen. Wach bleiben, wach
beim Krächzen der Krähen, wach gegen den untergehenden
Dunkelmond, und du weißt, was folgt. Noch einmal verweilen
an jedem Ort, noch einmal die Chronik deines Lebens, inniger
Abschied, Berührungen, Stimmen und Bilder. Wie klingt
der Sternenstaub? Wach bleiben gegen die Durchgehbarkeit,
die Nadel im Bauch, wach gegen die aufsteigende Lähmung.
Leben saugen. Leben saugen. Die Ohren steif bis ins letzte
Haar. Aufstehen gegen den letzten Käfig, der dir den Atem
nimmt, deinen Herzschlag, nach Luft schnappen zuletzt.
Aufstehen. Die Krähen.
#Orlando
Lass uns wandern, ein Sprung durchs Feuer
vor dem nächsten Schnee, die Zukunft liegt
auf der anderen Seite, fortlaufende Schleife
aus Aufruhr und Wiedergeburt. Dort treffen
wir kleine Vögel inmitten Irisblüten, regen-
bogenfarben, und Staub,
gottlos, diese Stadt ohne Hass, eingebunden
in galaktische Federwolken, wo wir rätseln
über Artefakte, die uns unserer Menschlichkeit
beraubten, behauptend, dass irgendein Gott
auf ihrer Seite stand. Code □ m □ w als
Lebensmuster, ausgemustert
die Unbestimmten, Zeugnisse einer Zeit
der willkommenen schäbigen Gefühle. Hass®
als eingetragenes Warenzeichen. Was sahen
sie, die Beifall klatschten? Sportficken, Massen-
morde, Kriege, bestehend aus Unterwerfung,
Angst und Tod, der Rest war Bürokratie.
Wir waren wieder jung, vergaßen, dass die Welt
nicht so verliebt in uns war wie wir ineinander.
Wir träumten von Namensgebung. Vom Gebären
als menschlichem Akt. Von Angleichung der Stern-
bildgrenzen. Von Staub. Wir erwachen erneut
im andern Geschlecht.
Selbstvergeudung über Epochen, Sprünge
durchs Feuer. Geisterchor der Möglichkeiten,
zeitlos fremd. Eine Burlesque. Ein Ruhepunkt
im Regen. Ein 300jähriges Leben als innigster
Liebesbeweis. Wie wilde Vögel füttern.
Weiter tanzen.
whoami
Ediths Liebe
Es war einer dieser Abende, die Bäume noch kahl, doch die Krokusse blühten bereits weiß und rosa am Straßenrand, ein Abend, der lockte, ein blauer Abend, sagte Marius immer. Edith überlegte, ob sie zu Fuß gehen sollte, doch dann entschied sie sich, auf das Taxi zu warten. Das Taxi gehörte dazu. Sie lächelte und öffnete ihren Mantel mit dem Leopardenmuster. Es war eigentlich zu warm dafür, aber Marius mochte diesen Mantel, an ihm wird er sie schon von Weitem erkennen.
Das Taxi hielt, und Albrecht grüßte sie und öffnete die hintere Tür.
“Zu Ihrer Verabredung?”
Sie nickte, umklammerte ihre Handtasche auf dem Schoß, und er ließ den Motor an und fuhr sie in die Innenstadt, schweigend, wie immer.
Vor der Bar parkten die ersten Wagen auf dem Gehweg. Hierher kam man nicht mit dem Bus oder der U-Bahn. Diese Bar war kein Café, in das man sich wie in einem Wohnzimmer verkriechen konnte, um bei einer Tasse Kaffee seinen Gedanken nachzuhängen. Sie war ein öffentlicher Raum, eine Bühne, auf der man sich präsentierte. Doch Marius meinte, er werde sie an einen besonderen Ort ausführen, für die wenige Zeit, die wir miteinander haben, Edith. Und schließlich und endlich würde sie hier niemand entdecken.
Albrecht hielt in der zweiten Reihe und half Edith beim Aussteigen.
“Soll ich Sie wieder abholen?”
“Um zwölf.”
In der Bar standen junge Frauen mit tiefem Ausschnitt und Männer im zwanglosen Jacket dicht gedrängt um die Theke. Aber Ediths kleiner Tisch hinter der Säule am Fenster war frei. Marius hatte ihn ausgesucht.
Schau, Edith, ein Separé für uns, und er lachte und wischte ihre Bedenken, jemand könne sie durchs Fenster sehen, fort. Wer sollte hier schon vorbeikommen?
Edith legte ihren Mantel über den Stuhl. Marius würde ihn dort sofort bemerken. Dann nahm sie ihre Handtasche und ging auf die Toilette. Tiefrot zeichnete sie ihre Lippen nach. Ältere Frauen sollten nicht auch noch betonen, dass ihre Lippen dünn und runzlig sind, hatte Ediths Tochter am Vortag gesagt, das wirke vulgär. Aber Marius hatte diesen Lippenstift donnerstags von Ediths Mund geküsst, warum also sollte sie die Farbe ändern? Ob sie sich mit einem Mann treffe, wollte ihre Tochter dann wissen. Diese Frage, die Edith erstarren ließ, obwohl es dafür keinen Anlass mehr gab. Wolf war tot. Trotzdem verleugnete sie Marius. Die Angst vor Entdeckung war nicht mit Wolf gestorben.
Marius wird es verstehen, dachte Edith, wenn ich es ihm genau so erkläre, wird er es verstehen. Dann schob sie ihren Lippenstift zurück in die Handtasche und ging zu ihrem Platz hinter der Säule.
Der Kellner streifte kurz ihren Blick, dennoch ließ er sich Zeit damit, an ihren Tisch zu kommen. Sie kannte ihn, er war jeden Donnerstag hier. Er war einer dieser Jungs, deren Gesichter noch keine Kratzer abbekommen haben. Er könnte ihr Sohn sein, wenn sie denn einen hätte.
Sie bestellte Cognac. Sie bestellte immer Cognac, doch diesem Jungen fiel es nicht ein, sich daran zu erinnern, sein Gesicht blieb unverbindlich und ohne ein Zeichen des Wiedererkennens.
Während sie auf den Cognac wartete, zog sie ihren Mantel wieder an. Marius sollte sie auf den ersten Blick in diesem Trubel von Menschen sehen. Der Mantel mit dem Leopardenmuster war sein Geschenk, für Paris, Edith, ich möchte mit dir Urlaub machen, nur ein paar Tage, eine Woche, egal, lass uns nach Paris fahren.
Doch Edith hatte bereits all ihre Finessen aufgebraucht, um Wolfs Misstrauen wegen des Mantels zu zerstreuen. Für Paris hatte es nicht mehr gereicht. Vielleicht war sie auch einfach keine Frau für zwei Männer.
Aber das ist ja nun anders, dachte sie, erstaunt, dass sie es erst jetzt feststellte. Und sie nahm sich vor, Marius gleich hier und heute darum zu bitten, mit ihr nach Paris zu fahren. Und nicht nur für ein paar Tage.
Der Junge mit dem faltenlosen Gesicht brachte den Cognac, dann blieb er an ihrem Tisch stehen und sagte: “Vielleicht möchten Sie sich an die Theke setzen?”
Was sollte sie an der Theke? „Danke, nein.”
“Ich muss Sie aber darum bitten.”
“Ich wüsste nicht, warum ich mich an eine Theke setzen sollte.”
“Es tut mir leid. Aber Sie können nicht alleine einen Tisch besetzen, wenn die Bar voll ist.”
Edith blickte an der Säule vorbei, wo sich Leute in Gruppen drängelten, tranken und lachten.
“Junger Mann,” sagte sie. “Ich setze mich an keine Theke. Und ich bin nicht alleine. Ich bin verabredet.”
Die Mundwinkel des Jungen zuckten, doch seine Stimme war dieselbe, die Bestellungen aufnahm, als er sagte: “Ich weiß, dass Sie verabredet sind. Nur ist Ihr Begleiter noch nie gekommen.”
Der Rest seiner Worte ging im schrillen Gelächter einer Gruppe junger Frauen unter. Edith nahm ihre Handtasche. Sie durchquerte die Bar, ohne jemanden anzusehen. Draußen dachte sie kurz daran, Albrecht zu benachrichtigen. Sie ließ es bleiben. Es war Frühling, und in ihrem Mantel fror sie nicht.
Leerstellen
1
Am Anfang war der Bahnhof, am Bahnhof der Garten, / wir klaubten Kartoffeln und Schnecken, die überbrühten wir / mit heißem Wasser. Den Anfang ließen wir uns nicht / kaputt machen. Noch nicht einmal von Schnecken.
Der Anfang benötigte Zeit, Zeit verschlang Zeit / und Geschichten, mittendrin der Kirschbaum, unter / dem die Elfen tanzten. Die Kirschen schützten wir / mit einem Netz, in dem sich ab und zu ein Vogel erhängte.
Am Anfang war der Garten, und die Ahnung, / dass dies nicht der Anfang des Anfangs war. Der Anfang / hatte den Bahnhof im Gepäck. / Der Bahnhof als Anfang / eines Anfangs, der Garten als Folge eines Bahnhofs, / die Reihe von Anfängen fraßen sich wie ein Wurm / durch die Kirsche. Am Baum. Im Garten.
2
Zeit verschlang Geschichten, der Wurm / verschlang die Zeit, zwei Generationen lang, bevor / er hier ankam, über der Schaukel im Kirschbaum, das tägliche / Elfenopfer im Blick: Himbeeren, Erdbeeren, Bohnen / neben dem Brunnen unterm Baum, wo sie / tanzten, dass das Gras wuchs. Die Opfer waren tabu. / Der Brunnen auch.
Aus dem Baum späht der Wurm in den Garten, / dort hütet Großmutter das Wort, die Elfen und / alle anderen Geister, Großvater die Tat, täglich / mit schlanken schweigenden Händen, wetzt Sägen und / Sensen, ein flitzender Blitz, die Sense in seinen Händen / überragt das Kind.
Seine Hände um die Sense, so schön wie / auf einem Plakat der KPD, wären da nicht die Geister. / Die Geister wohnen im Brunnen, so der allwissende / Wurm. Die Geister kommen vom Bahnhof, / so die Großmutter. Später. Und sie / musste es wissen. Später ist klar, die Geister wohnen / überall, nur nicht unter der Erde.
3
Der Wurm frisst sich durch die Kirsche, am Darmende / schillernd grün, wie das Wasser eines Brunnens / an einem Hochsommertag. Von drinnen gesehen. / An einem Hochsommertag rufen Züge in die Gärten: / Es fuhr ein Zug Soldaten nach Frankreich übern Rhein. / Der Mohn applaudiert. Dazwischen eine gelbe Lok. / Gehalten von schönen Händen bewegt das Kind den Zug.
Der Wurm über der Schaukel / schielt zum Brunnen, grün, tabu. Wie Elfen. Heimliche / Geister. Die Geister sind Großmutters Aufgabe. Poltergeister, sagt sie. Später. / Im Bahnwärterhäuschen, nachts. Später / ist klar, es sind Hungergeister, deportiert, OST als Stigma / am Revers.
Später ist gar nichts klar. Am Anfang der Bahnhof und / Frauen, deportierte Weiber, sagt sie, und seine, durch / den Bahnhof vor der Front geretteten, schönen Hände. / Wären da nicht die Hunde. Nichts war klar. / Welche Geister. Die Hunde? Die Frauen? Wo sie wohnten. / Im Bahnwärterhäuschen? Im Brunnen? / Was sie tun.
4
Zeit verschlang Zeit und Geschichten, der Wurm / verschlang die Zeit, die Hunde, die Frauen, das / Stigma am Revers. In einer Nacht / im Bahnwärterhäuschen spuckte er sie wieder aus. / Hunde, die Frauen jagten, Lasten zu entladen. / Keine Schranken, keine Weichen.
Der Wurm verschlang die Geschichten, die Geister / verschlang er nicht. Die Geister fuhren in Großvaters Hände. / Beim Späne schneiden, Sense wetzen. / Er wollte Künstler werden, / ist aber Waise geworden. Später / wurde er Medium, wegen seinen bemächtigten Händen, / die schrecklich schön das Messer führten, die wild / und plötzlich zitterten.
Es war Großmutters Aufgabe, sie milde zu stimmen. Milch / für die Katzen der Wilden Jagd, Erntedank für die Elfen / unterm Baum. Nur für den Brunnen hatte sie nichts. / Gegen von Hunden gejagte Hungergeister / kommt niemand an.
5
Später ist klar, Geister spuken immer und überall, auch / an Hochsommertagen. Rangieren in einer gelben Lok / Züge bis zum Bahnwärterhäuschen. Heischen / nach Applaus. Es fuhr ein Zug Soldaten. Ohne / Schranken, ohne Weichen. Kommen sie mit / in den Garten nebenan. Verwechseln gelbe / Stigmen mit gelben Kindergießkannen.
Ist ein Kind in‘n Brunnen g‘fallen, hab es hören / plumpsen. Mittags an einem Hochsommertag schillert / der Brunnen grün. Das Kind zählt Wasserläufer, die / nach Beute springen. Füllt eine gelbe Kanne. / Wird unter Wasser gedrückt von schönen Händen, gehalten, / herausgerissen, wieder eingetaucht / ins Tabu. Ohne / Schranken, ohne Weichen.
Der Wurm beißt sich aus der Kirsche. Woher / weiß man, wann man weise ist? Sie war / Waise bevor sie weise wurde, kommt / mit dem Blitz zu einem halb ersoffenen Kind. / Flüchtet sich mit ihm vor dem einsetzenden / Gewitter unter Marias Sternenmantel. Er / mit seinen zitternden Händen hört die Hunde / heulen. Draußen.
6
Er wollte Künstler werden, dann ist das Leben / dazwischen gekommen. Schrecken, Schocks, / und weiße Pillen, die gierig der Wurm verschlang. / Später wurde er Medium, / um mit seinen Händen den Toten zwar nicht / das Leben, doch eine Sprache zu geben. / Er mochte Katzen. Hunden vertraute er nicht. / Er heulte den Mond an, sommers wie winters / fingen wir ihn auf der Straße ein.
Quer
Spätblüher
Am Ende hofften wir auf Spätblüher:
Astern, Sonnenaug‘. Was man alles
verlieren kann, ohne es zu besitzen,
danach hatten wir bislang noch nicht
gefragt.
Wir trösteten uns am Fenster. Der Blick
über die Dächer gab immer kleinere
Dächer frei, eine überschaubare Skyline,
Fluchtpunkte am optischen Horizont,
weichgezeichnet im Dunst der nächsten
Zigarette:
5 feuilles avant la fin. Das Knistern kam
von einer Schallplatte, music from the
elder, zu schnell abgespielt. Nebenan
lief die Nachbarin im Kreis und sang mit,
die ganze Nacht.
Morgens sahen wir Zugvögel im Spiegel.
Dachten an die Kirschblüten, unter denen
wir weißer waren. Als sie sich auf unsere
Schultern legten, hatten sie kein Gewicht.
Skalierende Bilder
Skalierende Bilder als Hall des Systems:
ein Ring, sie zu knechten, und kräftige Kurse
am Aktienmarkt, an allen Enden kalte Öfen.
Starren an der Straßenecke, so viel Haut,
deiner Sprache unkundig, wo du bist.
Entwurzelte Suche nach Sicherheit, ein Ring,
sie ins Dunkel zu treiben. So wehrt sich dein
Liegen, fremdes Laken, fremder Stein von Ort
zu Ort, wo du bist, still, damit die Uniformen
dich vergessen.
Und sie ewig zu binden, noch Jahre Jahre
die Geschichten. Dieser Krieg. Keine Kinder-
landverschickung. Das Geheimnis ist, dass
man verschwindet. Im Dieselruß am nassen
Fenster rinnt dein Spiegelbild.