„Störungen in einem fast idealen Modell“

Wie, wo und warum können Gedichte zu Störungen werden? Welche Frequenzanteile oder Stimmen überlagern sich in ihnen? Inwiefern funktionieren sie als „Weißes Rauschen“? Unsere dritte Jahreslesung im Giesinger Bahnhof wird ein Reimfrei-Replay: Ann-Kathrin Ast, Karin Fellner und Andrea Heuser stellen neue Texte vor. Diese Gedichte werden von anderen Reimfreien und unserem Gast Pia-Elisabeth Leuschner beleuchtet und beantwortet: mit eigenen Gedichten, mit Bildern und Musik, frei assoziierend und genau kommentierend.

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Guten morgen das ist vater

von andrzej aus tigergruppe sagt die stimme neben mir andrzej ist krank und kann diese woche den kindergarten nicht besichtigen um uns pendler und eine fuhre ausländischer reisender vom flughafen die den weg in ihr hotel auf ihren plänen lippenlesen besichtigen wie das wort in mir nachklingt und bald einen sanften trost hinterlässt an diesem regentrüben morgen die dinge greifen ineinander wie von selbst sie brauchen nicht die präzision der sprache unsere anstrengungen nach verständigung die biblische mühsal den geschehnissen unseren willen aufzuzwingen die reisenden werden ihr hotel finden wie meine hand die stechkarte im büro andrzej ist krank es wird seine regenjacke nicht an den haken unter dem tigersymbol hängen die lilliputhausschuhe darunter bleiben verwaist aber nur eine woche

(frank schmitter)

Frohe Weihnachten!

REIMFREI
wünschte allen LeserInnen unseres Blogs ein erholsames Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr. Vielen Dank für Ihr Interesse an unserer Arbeit. Wir hoffen, dass Sie uns auch in 2013 die Treue halten.

Stellvertretend für alle Reimfrei-Mitglieder ein Weihnachtsgedicht von Frank Schmitter:

in der nacht hatte es geschneit

die fahrräder trugen die schablonen
ihrer selbst auf lenkern und sätteln
beim einkaufen sahen wir die letzten
christbäume gefällt und verschnürt
wie feindliche krieger über bürgersteige geschleift

am frühen abend die kirche berstend voll
wie ein flüchtlingsboot
die kinder im untergeschoss
mit dem schuhcreme-könig
dem stroh den schafswolljacken den falschen bärten
und wahren märchen

das lippenlesen der wunschzettel während des abendessens
endlich die weihnachtslieder und der erlösende
schlag auf den gong
die bescherung und das zittern
zwischen enttäuschung und erfüllung
und neben dem baum wuchsen die hänge aus geschenkpapier
schleifen und kartons

gegen mitternacht gingen wir hinaus
du und ich
mit dem leuchtturmlicht einer taschenlampe
bis an den see
wo die tentakeln des ersten eises
die boote umkrallten

die ruderblätter im rumpf
überwintern wange an wange

aus: Frank Schmitter, Die markisen rollen den nachmittag aus. Lyrikedition2000 im Allitera-Verlag, 2012, auch veröffentlicht in: Weihnachtsgedichte. Hrsg. von Anton Leitern u. Gabriele Trinckler, dtv, 2012